[Achtung, Triggerwarnung. Ich kann dir das Lesen nicht empfehlen, wenn du psychisch labil bist und dich von einer Geschichte sehr mitreißen lassen kannst.]
Er betrachtete den Satz, der mit schwarzer Farbe an die weiße Hauswand gemalt worden war. Der Verfasser war offenbar in Eile gewesen, denn an vielen Stellen war Farbe hinuntergelaufen, sodass es aussah, als würden die Worte schwarze Tränen weinen. Bei genauerer Betrachtung war sie gar nicht weiß, die Wand, dachte er. Sie war grau, an manchen Stellen bräunlich und sobald das Ordnungsamt den Schriftzug übermalt hätte, würde sich das weiße Rechteck sicher deutlich vom Rest der Fassade abheben. Vielleicht sollte jemand alle Wände der Stadt bemalen, dachte er. Dann würden die auch mal wieder frisch gestrichen werden.
Er las den Satz noch einmal und dachte an sie.
Es war nun mehrere Monate her, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Erst konnte er nicht glauben, dass das wirklich das Ende sein sollte, doch nachdem der Kontakt nun vollends abgebrochen war, gab es da keinen Zweifel mehr. Es war kein schönes Ende gewesen und ganz sicher keines, das er sich gewünscht hatte und dennoch war es nicht das schlimmste, was hätte passieren können.
Er schaute auf die Uhr, der Bus hatte Verspätung. Das passierte in letzter Zeit häufiger, doch er störte sich nicht daran. Er fand, dass man sowieso viel zu selten Zeit hatte, um einfach mal nichts zu tun. Die Leute erwarteten, dass man pünktlich war. Er konnte das zwar gut verstehen, hatte aber dennoch das Gefühl, viele Menschen würden ihr Gespür für die kleinen Dinge verlieren, irgendwo zwischen endlosem Zeitdruck und erzwungener Freizeit. Wer bei jedem Gespräch nebenbei noch seine Mails las, dem entging sogar die auffälligste Regung im Gesicht seines Gegenübers und wer bei jedem Spaziergang pausenlos die Uhr im Blick hatte, dem fielen nicht einmal die gröbsten Änderungen in der Umgebung auf.
Noch einmal las er den Satz, der ihn an eine Zeit erinnerte, an die er bis vor kurzem nicht denken konnte ohne dabei in ein tiefes Loch zu fallen oder zumindest nah an dessen Rand zu treten. Inzwischen war er soweit, dass er das Loch aus einiger Entfernung betrachten konnte und meistens der unerklärlichen Anziehungskraft der Schwärze widerstand. Nun jedoch fühlte er, wie die Bilder und Gefühle wiederkamen. Er kannte das zu gut. Irgendwo öffnete sich eine Tresortür und ihr Inhalt ergoss sich in seinen Geist, wo er sich festsog, wie Rotwein auf einem weißen Tischtuch. Es konnte überall und zu jeder Zeit passieren und jetzt war es wieder so weit. Die Bushaltestelle verschwamm und es wurde dunkel.
Er war wieder auf diesem Bahnsteig, verstört und eingeschüchtert, mitten in der Nacht. Er sah auf die elektrische Anzeige über ihm. Dreizehn Minuten stand dort und Verzweiflung überkam ihn.
Nur, weil es Sonntagnacht ist, dachte er, nur deswegen. Er schaute auf sein Smartphone und tippte. Er schrieb ihr, dass die Bahn so verdammt lang brauche. Im gleichen Moment hasste er sich dafür und hatte Angst. Was, wenn er sie damit in die Enge trieb, geradewegs in die Fänge des Monsters hinein? Er musste vorsichtig sein, das war ihm klar. Er wusste nicht, wieso er überhaupt in dieser Situation war. Er war weder dafür ausgebildet, noch hatte man ihm erklärt, wie man mit so einem Druck umging. Er tigerte auf dem Bahnsteig auf und ab und hoffte, dass die Zeit für sie langsamer verging.
Das Handy vibrierte und er las ihre Nachricht. Sie war verwirrt und er erklärte ihr, dass er auf dem Weg zu ihr sei. Gerade hatte sie ihm noch vorgeworfen, dass er nicht da war und nun schien es, als habe sie Angst vor ihm. Vermutlich war das Monster schon ganz nah. Er wusste, dass sie es nicht erkennen würde, nicht bekämpfen konnte. Er versuchte sie zu beruhigen. Er wollte ihr schreiben, dass nicht er der Feind war, aber das hätte sie nicht eingesehen. Er hoffte dennoch, dass irgendetwas in ihr sich dieser Tatsache bewusst war. Sie wollte wissen, wann er da sei und er sagte es ihr. Er sagte ihr, sie solle auf ihn warten und sie antwortete ihm, er solle sich beeilen. Ein Funken Hoffnung entzündete ein kleines Feuer in seinem Inneren. Vielleicht würde er sie beschützen können. Vielleicht wäre er noch rechtzeitig da.
Seine Gedanken verblassten, es wurde wieder Tag und er bemerkte, dass er sich an die gläserne Wand der Bushaltestelle gelehnt hatte. Ein kleiner Hund bellte ihn an. Er wusste nicht, ob er etwas getan hatte, um den Hund zu verärgern und sah sich, noch etwas benommen, nach einem Besitzer um. Eine ältere Dame kam um die Ecke und rief ihrem Hund zu, er solle aufhören immer fremde Leute anzubellen.
"Sie sehen etwas blass aus", sagte die Dame belustigt. "Kann so ein kleiner Hund Sie so sehr erschrecken?"
Sie zwinkerte ihm zu. Er bemerkte erst nach ein paar Sekunden, dass sie mit ihm sprach und hörte, wie die Leere in seinem Inneren für ihn antwortete.
"Nein, nein. Mir geht es gut, kein Problem. Wirklich."
Er lächelte, ohne sich große Mühe zu geben überzeugend auszusehen.
"Ach, na schön. Es tut mir leid, der kleine ist immer etwas übermütig. Mein Mann wollte unbedingt einen haben, wissen Sie. Ich mache mir ja eigentlich nicht so viel aus Hunden."
Sie schaute ihn erwartungsvoll an, wohl in der Hoffnung ein Gespräch über die Nachteile und Vorzüge der Hundehaltung beginnen zu können.
"Ja", sagte er und drehte sich weg.
Mit einem enttäuschten und vorwurfsvollen Seufzen nahm die Dame ihren Hund an die Leine und ging davon. Er sah ihr nach, dann streifte sein Blick wieder den Satz an der Hauswand. Er spürte wie die nächste schwarze Welle die Leere zu füllen begann und wieder verschwamm die Wand vor seinen Augen und verschwand.
Er stand vor ihr. Er wusste nicht, was er fühlte und er wusste nicht, wieso er nicht weinte. Man weint doch in so einer Situation, dachte er. Doch seine Gedanken waren klar und klare Gedanken lassen keine Tränen zu. Sie war auf eine kleine Treppe in der Nähe ihrer Wohnung geflüchtet. Es war kein gutes Versteck und so hatte er sie schnell gefunden. Jetzt saß sie dort vor ihm, ein Schatten des Mädchens, dass er ein dreiviertel Jahr zuvor kennengelernt hatte. Das Monster hatte sich an sie geschmiegt und sie in seinen Bann gerissen. In ihrer Hand hielt sie eine Tasse, die das Monster mit Dunkelheit gefüllt hatte. Es war nicht die Dunkelheit einer gemütlichen Sommernacht und auch nicht die Einschlafdunkelheit, die man nach einem harten Arbeitstag genoss. Nein, diese Dunkelheit war dichter, greifbar und dabei so unbegreiflich, wie es nichts im Leben ist. Und es war diese Dunkelheit, die sie sich nach und nach in den Mund schob. Ein Stück nach dem anderen nahm sie aus der Tasse, wiegte es kurz in der Hand, warf es sich zwischen ihre schönen Lippen und schluckte. Dann trank sie aus der Flasche, die zu ihren Füßen stand. Es war der Vodka, den er schon oft zwischen anderen Flaschen auf ihrem Wohnzimmerregal gesehen hatte. Das Monster lachte. Sie schaute ihn ausdruckslos an und er setzte sich zu ihr, nahm sie in den Arm und versuchte das Monster ein Stück wegzuschieben. Gleichzeitig begann er beruhigend auf sie einzureden und versuchte die richtigen Worte zu finden, überhaupt Worte zu finden. Das Monster wurde wütend und brüllte ihn an. Er ignorierte es, denn gerade warf sie sich ein paar Stücken Dunkelheit auf einmal in den Mund. Kurzerhand steckte er seine Finger zwischen ihre Zähne und zwang sie, die Dunkelheit wieder auszuspucken. Sie mochte es nicht, sie wollte nicht, dass er das tat, doch sie war schwach. Er spürte, dass sie sich nicht wehren konnte und er spürte, dass das Monster das auch wusste. Es ließ ein tiefes Grollen ertönen und sie stand auf. Sie sah ihn an und kurz hatte er die Hoffnung, dass sie das Monster nun gemeinsam bekämpfen könnten, doch im selben Moment begann es wieder zu lachen und sie rannte los. Etwas schwarzes kam die Straße herauf und sie rannte darauf zu. Er packte ihre Sachen zusammen, ging ihr nach und ließ das lachende Monster hinter sich stehen. Er wusste, dass der Bann mit jedem Schritt, den sie sich vom Monster entfernte, nachlassen würde, er hoffte es jedenfalls.
Wie ein Rammbock aus Dunkelheit raste die Schwärze nun auf sie zu und es war offensichtlich, dass das Monster nun versuchte diese Sache schnell und unsauber zu erledigen. Doch im letzten Moment wich sie aus, machte einen kleinen Bogen und entging dem Aufprall. Er holte sie ein, etwas außer Atem, und packte sie. Sie erschrak.
"Hast du meine Sachen?", fragte sie tonlos und sah kurz danach wieder genauso benommen aus wie zuvor. Er bejahte und begann sie vorsichtig in Richtung ihrer Haustür zu ziehen. Sie wollte sich losreißen, wahrscheinlich wollte sie schreien, ihn kratzen oder beißen, doch all das führte nur zu einer kleinen Bewegung ihres Arms, die ihn kaum aufhalten konnte. Er schloss die Tür auf, führte sie die Treppe hinauf und dann hinein in ihre Wohnung. Das Monster blieb draußen zurück.
Sie setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer, er atmete tief ein und schloss die Augen. Sie lehnte sich an ihn und schwieg. So saßen sie beide eine Weile da bis sie ihm sagte, sie müsse auf Toilette. Er öffnete die Augen, lächelte sie an und sie stand auf und ging ins Bad. Er wollte sich gerade wieder zurücklehnen, als ein lautes Brüllen erklang und der Wohnungsflur sich mit Dunkelheit füllte. Sofort war er auf den Beinen und ging zur Badezimmertür hinüber. Er klopfte und bekam keine Antwort.
"Alles okay bei dir?", fragte er laut.
Wieder keine Antwort.
Die Tür war abgeschlossen, doch er wusste, wie er sie von außen aufschließen konnte. Er betrat das Badezimmer und erneut sah er sie vor sich sitzen. Das Monster grinste ihn an. Sie hatte ein dünnes Stück Dunkelheit in der Hand und strich es sich gerade über die Haut am Unterarm. Sofort entstand ein roter Streifen und Blut tropfte auf den Boden. Er sah, dass sie auch aus anderen Wunden blutete und stieß einen Fluch aus. Er hockte sich neben sie, half ihr auf die Beine und führte sie zum Waschbecken. Sie wirkte kraft- und willenlos. Er öffnete den Wasserhahn und wusch ihre Wunden. Sie sagte leise, das Trocknen könne sie selbst und so ging er ins Wohnzimmer und holte Verbandszeug und Pflaster. Das Monster war still geworden und es schien, als hätte es für den Moment aufgegeben.
Er verband ihre Wunden, während sie sich gleichzeitig an ihn kuschelte. Seltsamerweise spürte er eine Wärme, wie noch nie zuvor. Ihm war, als wäre er nie einem Menschen so nahe gewesen, wie ihr in diesem Augenblick.
Nachdem die Wunden versorgt waren, saßen sie wieder auf der Couch und schauten Fernsehen. Sie taten so, als wäre nichts gewesen.
Noch zwei oder drei Mal ging sie an diesem Abend ins Bad und noch zwei oder drei Mal öffnete er die Tür, half ihr auf und verband ihre Wunden. Mit jedem Mal wurde das Monster kleiner und irgendwann war es ganz verschwunden. Sie hatten es besiegt. Es hatte sie schon fast verschlungen gehabt und fast wäre sie ihm erlegen, doch mit seiner Hilfe hatte sie es geschafft. Irgendwo in der Erschöpfung spürte er ein wenig Stolz. Und da war noch etwas anderes, etwas dunkles, das sich in seinem Inneren festgebissen hatte und ihm Angst machte. Dann schlief er ein.
Später einmal sagte sie ihm, sie könne sich an den Abend eigentlich gar nicht erinnern. Doch es dauerte Monate bis er sie wieder ohne Angst ins Badezimmer gehen lassen konnte und noch länger bis er die Treppe vor ihrer Wohnung anschauen konnte, ohne Angst vor dem Monster zu haben, das dort noch in den Schatten lauern mochte.
Er hörte, wie sich vor ihm Bustüren öffneten und schlagartig war er wieder an der sonnigen Bushaltestelle in der Gegenwart. Kurz orientierte er sich, dann bewegte er sich langsam Richtung Bus und stieg ein.
"Sorry für die Verspätung", sagte der Fahrer, während er seine Monatskarte vorzeigte.
"War mal wieder ganz schön voll an der Baustelle vorne an der Kreuzung", sprach der Fahrer weiter. "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stehen sie noch heute im Stau."
Der Fahrer lachte und zwinkerte ihm zu. Er lächelte, steckte seinen Fahrschein ein, zwängte sich auf einen der letzten freien Plätze und sah aus dem Fenster. Nochmal las er den Satz und war sich sicher, dass er noch nie etwas so wahres gelesen hatte.
Als er am Abend, mehrere Stunden später, auf dem Heimweg an der Bushaltestelle vorbeikam, war dort kein Satz mehr. An der Hauswand prangte ein großes weißes Rechteck, das sich deutlich vom Rest der Fassade abhob. Er lächelte und ging nach Hause.
Er las den Satz noch einmal und dachte an sie.
Es war nun mehrere Monate her, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Erst konnte er nicht glauben, dass das wirklich das Ende sein sollte, doch nachdem der Kontakt nun vollends abgebrochen war, gab es da keinen Zweifel mehr. Es war kein schönes Ende gewesen und ganz sicher keines, das er sich gewünscht hatte und dennoch war es nicht das schlimmste, was hätte passieren können.
Er schaute auf die Uhr, der Bus hatte Verspätung. Das passierte in letzter Zeit häufiger, doch er störte sich nicht daran. Er fand, dass man sowieso viel zu selten Zeit hatte, um einfach mal nichts zu tun. Die Leute erwarteten, dass man pünktlich war. Er konnte das zwar gut verstehen, hatte aber dennoch das Gefühl, viele Menschen würden ihr Gespür für die kleinen Dinge verlieren, irgendwo zwischen endlosem Zeitdruck und erzwungener Freizeit. Wer bei jedem Gespräch nebenbei noch seine Mails las, dem entging sogar die auffälligste Regung im Gesicht seines Gegenübers und wer bei jedem Spaziergang pausenlos die Uhr im Blick hatte, dem fielen nicht einmal die gröbsten Änderungen in der Umgebung auf.
Noch einmal las er den Satz, der ihn an eine Zeit erinnerte, an die er bis vor kurzem nicht denken konnte ohne dabei in ein tiefes Loch zu fallen oder zumindest nah an dessen Rand zu treten. Inzwischen war er soweit, dass er das Loch aus einiger Entfernung betrachten konnte und meistens der unerklärlichen Anziehungskraft der Schwärze widerstand. Nun jedoch fühlte er, wie die Bilder und Gefühle wiederkamen. Er kannte das zu gut. Irgendwo öffnete sich eine Tresortür und ihr Inhalt ergoss sich in seinen Geist, wo er sich festsog, wie Rotwein auf einem weißen Tischtuch. Es konnte überall und zu jeder Zeit passieren und jetzt war es wieder so weit. Die Bushaltestelle verschwamm und es wurde dunkel.
Er war wieder auf diesem Bahnsteig, verstört und eingeschüchtert, mitten in der Nacht. Er sah auf die elektrische Anzeige über ihm. Dreizehn Minuten stand dort und Verzweiflung überkam ihn.
Nur, weil es Sonntagnacht ist, dachte er, nur deswegen. Er schaute auf sein Smartphone und tippte. Er schrieb ihr, dass die Bahn so verdammt lang brauche. Im gleichen Moment hasste er sich dafür und hatte Angst. Was, wenn er sie damit in die Enge trieb, geradewegs in die Fänge des Monsters hinein? Er musste vorsichtig sein, das war ihm klar. Er wusste nicht, wieso er überhaupt in dieser Situation war. Er war weder dafür ausgebildet, noch hatte man ihm erklärt, wie man mit so einem Druck umging. Er tigerte auf dem Bahnsteig auf und ab und hoffte, dass die Zeit für sie langsamer verging.
Das Handy vibrierte und er las ihre Nachricht. Sie war verwirrt und er erklärte ihr, dass er auf dem Weg zu ihr sei. Gerade hatte sie ihm noch vorgeworfen, dass er nicht da war und nun schien es, als habe sie Angst vor ihm. Vermutlich war das Monster schon ganz nah. Er wusste, dass sie es nicht erkennen würde, nicht bekämpfen konnte. Er versuchte sie zu beruhigen. Er wollte ihr schreiben, dass nicht er der Feind war, aber das hätte sie nicht eingesehen. Er hoffte dennoch, dass irgendetwas in ihr sich dieser Tatsache bewusst war. Sie wollte wissen, wann er da sei und er sagte es ihr. Er sagte ihr, sie solle auf ihn warten und sie antwortete ihm, er solle sich beeilen. Ein Funken Hoffnung entzündete ein kleines Feuer in seinem Inneren. Vielleicht würde er sie beschützen können. Vielleicht wäre er noch rechtzeitig da.
Seine Gedanken verblassten, es wurde wieder Tag und er bemerkte, dass er sich an die gläserne Wand der Bushaltestelle gelehnt hatte. Ein kleiner Hund bellte ihn an. Er wusste nicht, ob er etwas getan hatte, um den Hund zu verärgern und sah sich, noch etwas benommen, nach einem Besitzer um. Eine ältere Dame kam um die Ecke und rief ihrem Hund zu, er solle aufhören immer fremde Leute anzubellen.
"Sie sehen etwas blass aus", sagte die Dame belustigt. "Kann so ein kleiner Hund Sie so sehr erschrecken?"
Sie zwinkerte ihm zu. Er bemerkte erst nach ein paar Sekunden, dass sie mit ihm sprach und hörte, wie die Leere in seinem Inneren für ihn antwortete.
"Nein, nein. Mir geht es gut, kein Problem. Wirklich."
Er lächelte, ohne sich große Mühe zu geben überzeugend auszusehen.
"Ach, na schön. Es tut mir leid, der kleine ist immer etwas übermütig. Mein Mann wollte unbedingt einen haben, wissen Sie. Ich mache mir ja eigentlich nicht so viel aus Hunden."
Sie schaute ihn erwartungsvoll an, wohl in der Hoffnung ein Gespräch über die Nachteile und Vorzüge der Hundehaltung beginnen zu können.
"Ja", sagte er und drehte sich weg.
Mit einem enttäuschten und vorwurfsvollen Seufzen nahm die Dame ihren Hund an die Leine und ging davon. Er sah ihr nach, dann streifte sein Blick wieder den Satz an der Hauswand. Er spürte wie die nächste schwarze Welle die Leere zu füllen begann und wieder verschwamm die Wand vor seinen Augen und verschwand.
Er stand vor ihr. Er wusste nicht, was er fühlte und er wusste nicht, wieso er nicht weinte. Man weint doch in so einer Situation, dachte er. Doch seine Gedanken waren klar und klare Gedanken lassen keine Tränen zu. Sie war auf eine kleine Treppe in der Nähe ihrer Wohnung geflüchtet. Es war kein gutes Versteck und so hatte er sie schnell gefunden. Jetzt saß sie dort vor ihm, ein Schatten des Mädchens, dass er ein dreiviertel Jahr zuvor kennengelernt hatte. Das Monster hatte sich an sie geschmiegt und sie in seinen Bann gerissen. In ihrer Hand hielt sie eine Tasse, die das Monster mit Dunkelheit gefüllt hatte. Es war nicht die Dunkelheit einer gemütlichen Sommernacht und auch nicht die Einschlafdunkelheit, die man nach einem harten Arbeitstag genoss. Nein, diese Dunkelheit war dichter, greifbar und dabei so unbegreiflich, wie es nichts im Leben ist. Und es war diese Dunkelheit, die sie sich nach und nach in den Mund schob. Ein Stück nach dem anderen nahm sie aus der Tasse, wiegte es kurz in der Hand, warf es sich zwischen ihre schönen Lippen und schluckte. Dann trank sie aus der Flasche, die zu ihren Füßen stand. Es war der Vodka, den er schon oft zwischen anderen Flaschen auf ihrem Wohnzimmerregal gesehen hatte. Das Monster lachte. Sie schaute ihn ausdruckslos an und er setzte sich zu ihr, nahm sie in den Arm und versuchte das Monster ein Stück wegzuschieben. Gleichzeitig begann er beruhigend auf sie einzureden und versuchte die richtigen Worte zu finden, überhaupt Worte zu finden. Das Monster wurde wütend und brüllte ihn an. Er ignorierte es, denn gerade warf sie sich ein paar Stücken Dunkelheit auf einmal in den Mund. Kurzerhand steckte er seine Finger zwischen ihre Zähne und zwang sie, die Dunkelheit wieder auszuspucken. Sie mochte es nicht, sie wollte nicht, dass er das tat, doch sie war schwach. Er spürte, dass sie sich nicht wehren konnte und er spürte, dass das Monster das auch wusste. Es ließ ein tiefes Grollen ertönen und sie stand auf. Sie sah ihn an und kurz hatte er die Hoffnung, dass sie das Monster nun gemeinsam bekämpfen könnten, doch im selben Moment begann es wieder zu lachen und sie rannte los. Etwas schwarzes kam die Straße herauf und sie rannte darauf zu. Er packte ihre Sachen zusammen, ging ihr nach und ließ das lachende Monster hinter sich stehen. Er wusste, dass der Bann mit jedem Schritt, den sie sich vom Monster entfernte, nachlassen würde, er hoffte es jedenfalls.
Wie ein Rammbock aus Dunkelheit raste die Schwärze nun auf sie zu und es war offensichtlich, dass das Monster nun versuchte diese Sache schnell und unsauber zu erledigen. Doch im letzten Moment wich sie aus, machte einen kleinen Bogen und entging dem Aufprall. Er holte sie ein, etwas außer Atem, und packte sie. Sie erschrak.
"Hast du meine Sachen?", fragte sie tonlos und sah kurz danach wieder genauso benommen aus wie zuvor. Er bejahte und begann sie vorsichtig in Richtung ihrer Haustür zu ziehen. Sie wollte sich losreißen, wahrscheinlich wollte sie schreien, ihn kratzen oder beißen, doch all das führte nur zu einer kleinen Bewegung ihres Arms, die ihn kaum aufhalten konnte. Er schloss die Tür auf, führte sie die Treppe hinauf und dann hinein in ihre Wohnung. Das Monster blieb draußen zurück.
Sie setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer, er atmete tief ein und schloss die Augen. Sie lehnte sich an ihn und schwieg. So saßen sie beide eine Weile da bis sie ihm sagte, sie müsse auf Toilette. Er öffnete die Augen, lächelte sie an und sie stand auf und ging ins Bad. Er wollte sich gerade wieder zurücklehnen, als ein lautes Brüllen erklang und der Wohnungsflur sich mit Dunkelheit füllte. Sofort war er auf den Beinen und ging zur Badezimmertür hinüber. Er klopfte und bekam keine Antwort.
"Alles okay bei dir?", fragte er laut.
Wieder keine Antwort.
Die Tür war abgeschlossen, doch er wusste, wie er sie von außen aufschließen konnte. Er betrat das Badezimmer und erneut sah er sie vor sich sitzen. Das Monster grinste ihn an. Sie hatte ein dünnes Stück Dunkelheit in der Hand und strich es sich gerade über die Haut am Unterarm. Sofort entstand ein roter Streifen und Blut tropfte auf den Boden. Er sah, dass sie auch aus anderen Wunden blutete und stieß einen Fluch aus. Er hockte sich neben sie, half ihr auf die Beine und führte sie zum Waschbecken. Sie wirkte kraft- und willenlos. Er öffnete den Wasserhahn und wusch ihre Wunden. Sie sagte leise, das Trocknen könne sie selbst und so ging er ins Wohnzimmer und holte Verbandszeug und Pflaster. Das Monster war still geworden und es schien, als hätte es für den Moment aufgegeben.
Er verband ihre Wunden, während sie sich gleichzeitig an ihn kuschelte. Seltsamerweise spürte er eine Wärme, wie noch nie zuvor. Ihm war, als wäre er nie einem Menschen so nahe gewesen, wie ihr in diesem Augenblick.
Nachdem die Wunden versorgt waren, saßen sie wieder auf der Couch und schauten Fernsehen. Sie taten so, als wäre nichts gewesen.
Noch zwei oder drei Mal ging sie an diesem Abend ins Bad und noch zwei oder drei Mal öffnete er die Tür, half ihr auf und verband ihre Wunden. Mit jedem Mal wurde das Monster kleiner und irgendwann war es ganz verschwunden. Sie hatten es besiegt. Es hatte sie schon fast verschlungen gehabt und fast wäre sie ihm erlegen, doch mit seiner Hilfe hatte sie es geschafft. Irgendwo in der Erschöpfung spürte er ein wenig Stolz. Und da war noch etwas anderes, etwas dunkles, das sich in seinem Inneren festgebissen hatte und ihm Angst machte. Dann schlief er ein.
Später einmal sagte sie ihm, sie könne sich an den Abend eigentlich gar nicht erinnern. Doch es dauerte Monate bis er sie wieder ohne Angst ins Badezimmer gehen lassen konnte und noch länger bis er die Treppe vor ihrer Wohnung anschauen konnte, ohne Angst vor dem Monster zu haben, das dort noch in den Schatten lauern mochte.
Er hörte, wie sich vor ihm Bustüren öffneten und schlagartig war er wieder an der sonnigen Bushaltestelle in der Gegenwart. Kurz orientierte er sich, dann bewegte er sich langsam Richtung Bus und stieg ein.
"Sorry für die Verspätung", sagte der Fahrer, während er seine Monatskarte vorzeigte.
"War mal wieder ganz schön voll an der Baustelle vorne an der Kreuzung", sprach der Fahrer weiter. "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stehen sie noch heute im Stau."
Der Fahrer lachte und zwinkerte ihm zu. Er lächelte, steckte seinen Fahrschein ein, zwängte sich auf einen der letzten freien Plätze und sah aus dem Fenster. Nochmal las er den Satz und war sich sicher, dass er noch nie etwas so wahres gelesen hatte.
Als er am Abend, mehrere Stunden später, auf dem Heimweg an der Bushaltestelle vorbeikam, war dort kein Satz mehr. An der Hauswand prangte ein großes weißes Rechteck, das sich deutlich vom Rest der Fassade abhob. Er lächelte und ging nach Hause.
Beendet am 24.09.2017